:: Stavropol. Montag, den 20. Mai 2002.

Die Wolken sind grau. Kleine, dicke Tropfen prasseln auf die Erde herab. Mir ist warm, eingepackt in meiner Jacke schaue ich aus dem Busfenster auf die nassen Straßen einer schlafenden Stadt. Stavropol liegt im Morgenhellen. Wie durch Zauberhand bohrt jemand ein Loch in den verwaschenen Schleier, als ich aussteige. Das Sonnenlicht badet sich in den Pfützen. Ich staune, welch eine schöne Stadt lag da im Verborgenen. Natascha macht einen Schritt auf mich zu, eine Stunde hat sie im strömenden Regen gewartet. Wir hatten Verspätung. Mit verschlafenden Augen folge ich Natascha, wir haben nur kurz am Telefon miteinander gesprochen, ihre Adresse habe ich von einer Freundin in Moskau bekommen. Natascha war auf einem Toleranzseminar der Quäker in Moskau, da habe ich gleich Fotos für sie mitgebracht. Ihr Haarschnitt ist flott und kurz, ich schätze sie auf Mitte dreißig. Natascha hat einen Sohn und arbeitet als Psychologin mit Flüchtlingskindern. Der Leninplatz ist leergefegt. Wir sind die einzigen, die zur dieser frühen Stunde an der Haltestelle am Dom Knigi[1] warten. Im Trolleybus, ein Mädchen, dass mindestens so müde ist, wie ich. Mit Schulranzen und gesenktem Kopf wankt sie bei jeder Bewegung des Buses. Da wacht sie kurz auf, als die Türen sich öffnen und neue Fahrgäste einsteigen.

Frühstücken tun wir erstemal bei Ina. Sie ist in Dagestan geboren, kam zum Studium nach Stavoropol, lernte ihren Mann kennen und blieb hier. In zwei Tagen kommt ihre Mutter zu Besuch. Dann kann sie mir über das Kultur in der Region erzählen. �Das Leben ist ganz normal. Meine Eltern wohnen in einem kleinen Dorf. Warum sollte es gefährlich sein? Nein, das stimmt doch alles nicht, was sie in den Medien bringen. Wir haben keine Angst. Der Anschlag in Kasbisk hätte auch überall anders in Rußland passieren können�, kommentiert Ina meine Gedanken zu Dagestan.

Und da sitzen wir nun, Natascha und Ina sind freundlich und helfen mir die Woche zu organisieren. In einer Platte am Stadtrand kann ich unterkommen. Natascha hat die Einraumwohnung über eine Bekannte einen günstigen Preis ausgehandelt.

Der Tag ist vollgepackt, wie mein Reiserucksack: Ich spreche beim Danish Refugee Council (DRC) vor und lasse mir Ansprechpartner von Flüchtlingshilfen aus der Region geben. Der DRC konzentriert sich selbst auf Trainingsseminare, um die Organisationen untereinander zu vernetzen. Die Leiterin des Büros ist hilfsbereit, ihre rote Nadel mit dem Schriftzug der Dänen blitzt an ihrem dunkelblauen Kostüm, sie gibt mir weitere Hinweise: �Unsere Verbindung zu staatlichen Einrichtungen hält sich in Grenzen. Der Migrationsdienst wird gerade umorganisiert, daher werden Sie wohl auch hier keine offiziellen Daten über Flüchtlinge und Migranten bekommen.� Angewiesen ist der DRC auf den Russischen Staat wohl eher nicht, die Organisation vergibt selbst Mikrokredite für Projekte, das Geld kommt aus dem Ausland.

Schon haben wir wieder vier Räder unter den Füßen, Natascha arbeitet noch bei der Flüchtlingssorganisation Alter Vita, von dort telefoniere ich die Liste vom DRC ab. Alter Vita sitzt in einem alten Verwaltungsgebäude einer Fabrik. Der Lackgeruch ist ein aufdringlicher Begleiter beim Gang auf dem Flur. An der Tür hängt ein Plakat mit einem Kindergesicht. In Stavropol sammelt eine Jugendgruppe Kleidung für Flüchtlingskinder in Tschetschenien und Inguschetien.

Voller Wollmützen und Strickhosen ist auch ein kleines Zimmer bei der Bürgerhilfe Orden, die seit elf Jahren humanitäre Hilfe ausgibt und Nachmittage organisiert, an denen Pädagogen mit Kindern basteln. Aber auch praktische Dinge, wie Anleitungen zur Ersten Hilfe und Strickmuster halten sie bereit. Die alltäglichen Probleme macht Olga Iwanowna klar: �24.000 Flüchtlinge hat der Amt für Migration im Januar 2002 gezählt. Inoffiziell wird aber vom Zehnfachen gesprochen. Mittlerweile hat das Amt die Registrierung der Flüchtlinge ausgesetzt.� Sie berichtet über die spezielle Situation in Stavropol: �Kasachstan, Georgien, Aserbaidschan und Tschetschenien. Wir waren einfach darauf vorbereitet. In den letzten Jahren haben wir unser bestes gegeben. Wir suchen Arbeit für die, die zu uns kommen. Ein großes Problem dabei ist eine Propistka[2] für die Leute zu erhalten.� Und dann zeigt Olga Iwanowna noch einen Brief vom Migrationsdienst, der ihre Wohltätigkeit anerkennt und sich für die Arbeit bedanken. �Was die machen, können wir nicht sagen.�, legt sie nach.

Trotz alledem, komisch kam mir die ganze Situation bei �Orden� schon vor. Kekse, Varenije[3] und Tee sind ja normal, die Auftritt der Leiterin war etwas künstlich. Ständig streichelte sie sich ihre Fingernägel und scheuchte ihre Mitarbeiterin hin und her. Vielleicht sind das aber auch einfach nur typische russische Eigenarten.

Natascha bleibt skeptisch: �Auf dem Papier sieht alles immer gut aus. Da werfen sie mit Broschüren um sich. Du mußt selber sehen.� Ich entschließe mich die Eindrücke wirken zu lassen und freue mich über die mißtrauische Reaktion Olga Iwanownas, als ich ihr am Ende noch einige Fragen zu Rußland stelle. �Früher war es besser. Warum fragen sie?�, antwortet sie mit leiser Stimme. Schon gut, dass ich das Schreiben von ZIS nicht bekommen habe, so bekommt jedes Gespräch einen naiven Charakter.
Fragen über Politik so von Mensch zu Mensch einfach aus Interesse sind hin und wieder unbekannt.

Ich erinnere mich an Sira in Astrachan, die mich davor warnte, in Stavropol von Terroristen auf der Straße entführt zu werden. Welch ein Trug, die Stadt ist herrlich. Kleine Hügellandschaften und Berge zieren das Tal. Überall grünt es. An einigen Ecken haucht mir das Flair vom Mittelmeer entgegen. �Wie in Italien!�, staune ich. In einem Panoramabus, der wie eine Schildkröte aussieht, brumme ich an weißen dicken Lehmmauern vorbei. Eine Babuschka hütet ihre Ziegen am Rand eines Fußballplatzes, auf dem die Jungs in der Abendsonne das Leder über das Feld kicken.

Jugendliche machen in Stavropol aber noch ganz andere Dinge. Am späten Abend bin ich wieder bei Alter Vita und treffe Studenten, die Kleiderspenden für Flüchtlingskinder organisieren. Ein Benefizkonzert ist auch geplant, die Jugendgruppe dahinter nennt sich �Junges Europa�. �Wir suchen uns Themen, die uns interessieren und versuchen etwas zu bewegen. Umweltschutz steht bei uns auch ganz groß auf der Tagesordnung�, erzählt mir Tanja, eine 19-jährige Studentin, die nebenbei in Stavropol für eine Zeitung schreibt. Ich erinnere mich an eine Aktion vor dem Kreml, bei der Jugendliche mit weißen Plastikanzügen zur Turmuhr gerobbt sind. �Genau das waren wir.�, stellt Tanja fest. �Nach fünf Minuten war alles vorbei. Die Miliz kam und die Kameramänner sind über den Roten Platz gerannt. Später hat man ihnen alles abgenommen. Wir wurden erstemal alle mitgenommen, vor Gericht haben sie uns dann eine Verwarnung ausgesprochen.� Sie zeigen mir Fotos, ich bin beeindruckt, so hatte ich mir Rußlands Jugend gar nicht vorgestellt.

Natascha hört, dass ich über Flüchtlinge schreibe. Die eine 21-jährige Physikstudentin schildert mir ihre Lebensgeschichte: �Ich bin Russin. Im November 1995 sind wir aus Usbekistan nach Tscherkessien[4] geflüchtet. Alles war nur noch auf Usbekisch, ich habe gar nichts mehr verstanden. In der Schule mußten wir doch nicht Usbekisch lernen. Jetzt studiere ich in Stavropol, weil es mir hier gefällt. Unser Leben in Usbekistan war gut, jetzt gibt es dort keine Zukunft mehr für uns. Wir hatten alles verkauft, mit einer Kiste sind wir losgezogen. Erst haben wir bei unserer Oma gewohnt, dann konnten wir uns eine Zwei-Raumwohnung vom Migrationsdienst aussuchen. Alles ging so schnell. Im Sommer 1995 habe ich noch mit Freunden Musik gemacht und auf der Wiese vor dem Haus getanzt; als meine Eltern mir sagten, dass wir gehen, habe ich es für einen Witz gehalten. Ich mußte alles zurücklassen. Ich kam in eine neue Klasse, es war schwierig neue Freunde kennenzulernen. Am Anfang habe ich mit niemanden gesprochen, jeden Tag Briefe geschrieben und nach Usbekistan telefoniert. Sie haben mir immer gesagt, dass sie mich nicht vergessen. Das gab mir Mut. Wo meine Heimat liegt? In Tscherkessien, dort gibt es Berge, Schnee und viele Ausländer. In Tscherkessien ist alles gut. Auch möchte ich mal nach Petersburg fahren, ich habe gehört, dass es dort sehr schön ist. Und Usbekistan? Ich würde gerne schauen, wie es dort so ist, was sich jetzt verändert hat.�

In der Nacht suche ich meinen Hauseingang in dem Wald von Hochhäusern. Tatjana hat mich noch in die richtige Maschrutka gesetzt. Nach einigen mißglückten Versuchen mit meinem Schlüssel an fremden Türen rette ich mich vor dem Regen in meine vier Wände.

Ende der Aufschrift gegen 1 Uhr morgens.

Martin Wählisch

 

 



[1] Haus des Buches.

[2] Arbeitsgenehmigung, Aufenthaltserlaubnis.

[3] Eingekochte Früchte.

[4] Karatschai-Tscherkessien, Region im Kaukasus, Rußland.

Hosted by uCoz